Leseproben vom Kater, der Märchen erzählt

Aus dem ersten Buch: Der Kater erzählt Märchen

Aus dem zweiten Buch: Der Straßenbahnschaffner von Venedig

Aus dem dritten Buch: Die Welt der Buchstaben

Aus dem vierten Buch: Die Briefmarke von Dublin und der Grabstein von Prag

Aus dem fünften Buch: Der Räuber Thymian

Aus dem sechsten Buch: Thymian in Texas

 

DAS MÄRCHEN OHNE ERSTEN SATZ

aus: Marec Béla Steffens, Der Kater erzählt Märchen

. .   . . .   . . . . . .   . . .   . . . . . . .,   . . .   . . . . .   . . . . . .   . . . . . .   . . . .! Der zweite Satz war ganz schön erschrocken, daß er da vorne so ganz alleine stand. Der dritte Satz fand das auch merkwürdig, aber immerhin hatte er einen Satz vor sich und einen Satz hinter sich, ganz wie es sich gehört. Der vierte Satz fand, ihn ginge das schon gar nichts mehr an.

Dem zweiten Satz ließ das aber keine Ruhe, daß kein erster Satz da war. Er beschwerte sich gleich bei dem Kater, der Märchen erzählt. „Ja, weißt du“, sagte der Kater, „der erste Satz zu meinen Märchen kommt immer von der lieben Katze. Und die ist jetzt nicht da.“ – „Wenn sie wirklich die liebe Katze ist, dann sollte sie aber da sein“, stellte der zweite Satz fest. „Dann müßte ich da vorne nicht so nackt und allein stehen.“ – „Sie ist lieb“, versicherte der Kater, der Märchen erzählt. „Sie ist nur jetzt nicht da. Sie kommt aber wieder.“ – „Bald?“ fragte der zweite Satz. – „Gleich“, sagte der Kater.

Als aber die liebe Katze nach einigen Tagen immer noch nicht wieder da war, wurde der zweite Satz ungeduldig: „Ich fühle mich so einsam da vorne, so ungeschützt“, sagte er, „und es zieht dort auch ganz furchtbar!“ Da der Kater ihm nicht helfen konnte, zog der zweite Satz in die Welt hinaus, um den ersten Satz zu suchen.

Noch bevor er in die Welt hinauskam, traf er in der Küche eine Kaffeetasse, die stand neben dem Spülbecken und wollte gerade ihre Morgentoilette machen. „Ich bin der zweite Satz und suche den ersten“, platzte der zweite Satz gleich heraus. „Erster Satz? Zweiter Satz? Was für ein Unsinn“, sagte die Kaffeetasse streng. „In jeder ordentlichen Kaffeetasse gibt es nur einen Kaffeesatz. Beim Tee“ – sie rümpfte die Nase – „da gibt es wohl so etwas wie einen ersten und zweiten Aufguß. Aber wir machen so etwas nicht. Es gibt nur einen Satz. Punkt.“

Da suchte der zweite Satz schnell das Weite. Draußen vor dem Haus traf er gleich ein Pony, das machte einen riesigen Satz über den Zaun. Der zweite Satz staunte, aber bevor er das Pony etwas zum Thema Sätze fragen konnte, war es schon zu den Schafen galoppiert, die es besuchen wollte. Dann sah der zweite Satz einen Grashüpfer, der machte einen ersten Satz, und einen zweiten, und einen dritten, und noch ein paar mehr, und einer war eleganter als der andere – doch dann war auch der Grashüpfer plötzlich weg.

Der zweite Satz kam an einem Haus vorbei, in dem lief gerade der Fernseher. „Der erste Satz beginnt gleich“, verkündete der Sprecher aufgeregt. – „Der erste Satz!“ Unser zweiter Satz war noch aufgeregter. Doch das, was er dann hörte, verstand er gar nicht. „Fünfzehn – Liebe“, sagte der Sprecher, „fünfzehn beide, dreißig–fünfzehn.“ Das klang gar nicht so wie ein Satz aus einem der Märchen, die der Kater erzählt. Und dann sagte der Sprecher plötz­lich ganz traurig: “Wegen des starken Regens muß der erste Satz jetzt abgebrochen wer­den." Der Sprecher versicherte, damit müsse man hier in Wimbledon leider immer rechnen. Aber der zweite Satz fand das ganz und gar nicht beruhigend. Er machte sich lieber aus dem Staub, schließlich wollte er nicht auch abgebrochen werden!

Später kam er an einem anderen Haus vorbei, das hatte im Erdgeschoß ganz große Fenster. In einem der Fenster bemerkte der zweite Satz viele Schachteln, auf denen von einem Satz Nägel oder einem Satz Schrauben die Rede war. „Vielleicht kann man mir hier weiterhelfen“, sagte er. „Sie verstehen viel von Sätzen, ganz bestimmt.“ Doch als er anfing, von seiner Su­che nach dem ersten Satz zu sprechen, da redeten sie alle wie wild durcheinander. Jeder schrie, er sei der erste Satz, und die anderen Sätze seien bestenfalls Ramschware. Der zweite Satz sah sie sich sehr genau an, aber so geschraubt und so vernagelt waren die Sätze nicht, die er aus den Märchen des Katers kannte. Da zog er wieder weiter.

An einer Kreuzung mußte er lange warten, weil der Weg versperrt war. Ein Satz von Kleist war gerade auf seinem Weg von der Stadtbibliothek ins Militärmuseum. Es dauerte fast eine Dreiviertelstunde, bis er vorübergezogen war. Der zweite Satz war müde geworden und überlegte, wer von den Tieren ihm vielleicht beim Suchen helfen könnte. Zuerst fragte er den Kaczorek, das ist der kleine Enterich. Der stand aber auf dem Balkon und wollte von dort nicht weggehen, weil er auf die liebe Katze wartete. Das macht er immer so.

Die Tausendfüßlerin fragte der zweite Satz auch. Sie war ganz erschrocken, als sie hörte, daß der erste Satz fehlen würde: „Wenn so etwas vorkommen kann, dann fehlt mir am Ende womöglich auch eines meiner Beine!“ Und sie zählte ihre Beine der Reihe nach, und noch­mal von hinten nach vorn, und nochmal zur Sicherheit, und so lange konnte der zweite Satz wirklich nicht warten.

Eine noch ziemlich junge Verwandte oder Bekannte von den Ameisen mischte sich plötzlich ein: „Warum soll es nicht auch ein Märchen ohne einen ersten Satz geben, es gibt doch auch die ‚Unbegonnene‘ Symphonie von Schubert!“ Da mußte der Kater eingreifen und das mit dem Schubert richtigstellen. Und: „Eine Symphonie ohne ersten Satz gibt es nicht“, stellte er kategorisch fest.

Immerhin kam der zweite Satz so auf die Idee, sich doch mal in der Musikakademie umzu­schauen. Er traf eine Geige und klagte ihr, daß er der zweite Satz sei und kein erster Satz da sei. „Und da beschwerst du dich?“ rief die Geige. „Ich bin selbst zweite Geige und wäre sooo froh, wenn keine erste Geige da wäre!“

Da ging der zweite Satz wieder zu dem Kater und fragte ihn, ob er für das Märchen nicht einen ersten Satz von einer Symphonie nehmen könne. „Schön wäre das schon“, sagte der Kater, „aber dann bräuchte man jedesmal ein Orchester, wenn jemand das Märchen lesen will.“ Das fand der zweite Satz dann doch nicht so praktisch, und er suchte weiter.

Er traf die berühmte Ente auf ihrem Verdauungsspaziergang. „Schreib das nicht, Kater“, bat die berühmte Ente, „das klingt nicht vornehm. Schreib, daß ich mich nach dem Mittagsmahl im Garten erging.“ Also traf der zweite Satz die berühmte Ente, als sie sich nach dem Mit­tagsmahl im Garten erging. „Ich kenne einen ganz hervorragenden ersten Satz“, sagte die Ente, „der paßt immer. ‚Im Anfang schuf Gott Himmel und Ente.‘ Wobei mit Gott natürlich die große Himmels-Ente gemeint ist, das ist ja klar.“ Der zweite Satz überlegte. ‚Im Anfang schuf Gott ...‘, das hatte er irgendwo schon einmal gehört, das war nicht aus einem Märchen, je­denfalls nicht aus einem des Katers. Und er zog wieder weiter.

Inzwischen waren die anderen Sätze, die am Anfang des Märchens standen, auch unruhig geworden. Der zweite Satz war schon so lange unterwegs! Sie fingen an, ihre Sachen zu packen und wollten losziehen, den zweiten Satz suchen, so wie der losgegangen war, um den ersten zu suchen. „Der Herr, der schickt den Jockel aus“, deklamierte einer der Sätze ziemlich gegen Ende des Märchens. Der zweite Satz kam plötzlich bei ihm vorbei – er wollte nachschauen, ob der erste Satz vielleicht sich verlaufen hätte und jetzt weiter hinten im Mär­chen stand. „Wer bist du denn?“ fragte der Satz, der das Gedicht von dem Jockel aufgesagt hatte. – „Ich bin der zweite Satz!“ – „Das kann ja jeder sagen. Da wollen wir doch gleich mal nachzählen. Wenn du hier in der Gegend bist, dann mußt du mindestens der fünfundsiebzig­ste Satz sein.“ – „Ich bin aber der zweite Satz“, beharrte der zweite Satz. Aber ein bißchen komisch sahen ihn die anderen Sätze dort schon an. Da ging er wieder zurück an seinen Platz, und die Sätze am Anfang des Märchens erkannten ihn wieder und freuten sich, daß sie sich die Suche nach ihm sparen konnten.

Der zweite Satz hatte sich alle Buchstaben wundgelaufen und hatte genug von der ganzen Suche. Er schaute den dritten Satz hinter sich und die leere Stelle vor sich lange an, dann holte er tief Luft und rief ganz laut:

„Ein Märchen braucht überhaupt keinen ersten Satz!“

(Und damit hatte das Märchen ohne ersten Satz wenigstens einen Schlußsatz.

Das war auch gut so, denn sonst wäre es ja immer weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weiter­gegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegan­gen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weiter­gegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegangen und weitergegan­gen und weitergegangen und weitergegangen und weiter...

Ist es aber nicht. Denn es hatte ja einen Schlußsatz.)

 

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DER KLEINE GARTEN

aus: Marec Béla Steffens, Der Straßenbahnschaffner von Venedig

Es war einmal ein kleiner Garten, der war ganz aufgeregt. Er sollte heute nämlich zum ersten Mal in den Kindergarten gehen. Das heißt, in den Gartenkindergarten. Ganz aufgeregt machte er sich auf den Weg. Und ganz vorsichtig auch, schließlich wollte er nicht von einem Auto angefahren werden. Früher hatte es nicht so viele Autos gegeben, das hatte ihm sein Großvater erzählt. Damals war es aber auch nicht so einfach gewesen für die kleinen Gärten, auf die Straße zu gehen. Das hatte der Großvater gesagt: damals kam immer irgend so ein Pferd und wollte an einem fressen.

Doch Pferde gab es heute nicht mehr auf den Straßen, und die Autos ließen den kleinen Garten in Ruhe. So kam er in den Gartenkindergarten. Da waren schon andere kleine Gärten, und sie waren alle aufgeregt. Die Kindergartentante nahm sie in Empfang und schaute, ob auch keiner Unkraut mitgebracht hätte. Dann durften sie miteinander spielen. In der Pause aßen die kleinen Gärten ihre Frühstücksbrote. Die hatten sie von zuhause mitgebracht. Zum Nachtisch aßen sie Obst, das hatten sie sowieso meistens dabei. Dann sangen sie ein Lied, "Alle Gärten sind schon da", oder sonst etwas Passendes.

Und was sie so spielten? Einer der kleinen Gärten hatte eine Sandkiste, und dort spielten sie alle sehr gern. Oder sie spielten Fangen und rannten dabei so, daß die Blumen wackelten und die Bäume sich festhalten mußten. Am liebsten aber spielten sie mit der Eisenbahn. Die gab es im Gartenkindergarten, und die kleinen Gärten bauten sie auf und schickten die Züge von einem kleinen Garten in den anderen. Die Kindergartentante paßte auf, daß es keinen Zusammenstoß gab und daß die kleinen Raupen und Käfer an den Bahnübergängen schön warteten, wenn ein Zug kam.

 

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DAS ERSTE KAPITEL, in dem etliche Buchstaben auf dem Kopf stehen, und andere Leute auch

aus: Marec Béla Steffens, Die Welt der Buchstaben

Es war einmal ein kleines o, das stand sooo gerne auf dem Kopf: o. Aber niemand bemerkte das. Wenn die kleine Elephantin Tina Anatolowna auf dem Kopf stand, dann wurde sie von allen Leuten bewundert, denn die meisten Elephanten können nicht auf dem Kopf stehen. Aber das o wurde niemals angestaunt, wenn es auf dem Kopfstand. Das kleine o fragte die anderen Buchstaben: "Wie ist es bei euch, wenn ihr auf dem Kopf steht?" - "Ich stehe nicht auf dem Kopf, sagte das kleine m, "und wenn ich es doch tue, dann tut es w!" "Wir stehen auch nicht auf dem Kopf, sagten das kleine u und das kleine n, "sonst verwechseln uns alle Leute!" - Auch das kleine b war nicht begeistert. "Ich, auf dem Kopf? ... p!" machte es nur. Vielleicht das kleine d? "Nein, denn einmal stand ich auf dem Kopf, erklärte das kleine d, "und jemand hat ,dumme q' zu mir gesagt." Doch das kleine g, das stand gern auf dem Kopf. "a!" staunten dann alle. Auch das kleine i, wenn es auf dem Kopf stand, riß alle zu Ausrufen der Bewunderung hin! "iOle!" rief das kleine i dann. Und: "Stehen in Spanien die Satzzeichen wirklich auf dem Kopf?" fragte das kleine g.

"Nur bei mir kräht kein Hahn danach, wenn ich auf dem Kopf stehe", bemerkte traurig das kleine o. - "Weißt du was? Mir geht es genau so", sagte das kleine l. "Und sogar, wenn ich nicht auf dem Kopf stehe, sagen manche ganz groß I zu mir." "Wie gemein", sagte das kleine o. - "Ja, gemein!" schrie das kleine l. Noch andere Buchstaben kamen dazu und ließen sich erklären, worum es ging. Alle riefen wild durcheinander.

"Jetzt ist aber Ruhe!" schimpfte da die berühmte Ente. "Mit eurem Krach stört ihr die liebe Katze, gerade jetzt, wo sie angefangen hat, das Mittagessen zu kochen!" Schon seit dem Frühstück hatte die Ente auf diesen Moment gewartet. "Ich sage euch", schimpfte sie weiter, "wenn ihr keine Ruhe gebt, kommt ihr Buchstaben alle in die Suppe!" Da verkrochen sich die meisten Buchstaben ängstlich. Nur das kleine o und das kleine l wollten nicht aufgeben. "Findest du es nicht wenigstens ein bißchen schön, wenn wir auf dem Kopf stehen?" fragten sie die berühmte Ente. - Doch: "Wozu soll das gut sein?" versetzte die Ente. "Wenn man auf dem Kopf steht, kann man nicht ordentlich essen."

Da gingen das kleine o und das kleine l in den Garten. Sie besuchten dort ein altes Ehepaar, nämlich die Erdbeere und den Schnittlauch. Die beiden mochten sie, weil sie ihnen so ähnlich waren. "Vielleicht steht ihr auch manch- mal auf dem Kopf?" fragten das kleine o und das kleine l die Erdbeere und den Schnittlauch. - "Aber sicher doch", sagte die Erdbeere und machte es gleich vor. Sofort stand auch der Schnittlauch auf dem Kopf und sang dazu:

"Alle meine Schnittlauchs Stehen auf dem Beet, Köpfchen in die Erde, Wurzel in die Höh'!"

Da staunten das kleine o und das kleine l, wie gut die Erdbeere und der Schnittlauch auf dem Kopf stehen können und wie schön man das bei ihnen sah. "Bei uns bemerkt es niemand, wenn wir auf dem Kopf stehen", sagten sie wieder. Da kam der Trombuschek in den Garten, der Elephant. Er sang das Lied von den Bäumen, wo die Elephanten spazierengeh'n, ohne sich zu stoßen. Er selbst ist aber nicht viel größer als ein Fingernagel. Die Erdbeere mußte aufpassen, daß sie ihn nicht versehentlich zerdrückte.

"Was seid ihr denn so trübsinnig?" fragte der Trombuschek das kleine o und das kleine l. - "Wir wollen auf dem Kopf stehen, und jeder soll uns dafür bewundern", erklärten die beiden. - "Nichts leichter als das!" trompetete der Trombuschek. "Wenn ihr auf dem Kopf stehen wollt, dann stellt euch einfach auf meinen Kopf!" Das taten das kleine o und das kleine l auch sofort, und der Trombuschek trug die beiden im Triumphzug durch den gesamten Gemüsegarten.

"Wie schön das kleine o und das kleine l auf dem Kopfstehen!" riefen alle Leute - die Erdbeere, der Schnittlauch, die Zwiebel, der Ret tich und überhaupt alle, denen sie begegneten. Auch Tina Anatolowna staunte, und sie versteht doch etwas vom Kopfstand. Unsere drei schmetterten stolz das Elephantenlied, in einer neuen Variante:

"Was müssen das für Bäume sein - ooo! Wo die großen - lll! Elephanten spazierengeh'n - ooo! Ohne sich zu stoßen - lll!"

Und manchmal stehen sie sogar auf dem Kopf auf dem Kopf. Aber das wissen nur die Eingeweihten.

 

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DAS RUHIGE HAUSTIER

aus: Marec Béla Steffens, Die Briefmarke von Dublin und der Grabstein von Prag

Eines schönen Tages ging die Katze wieder einmal einkaufen. Und zwar ging sie zuerst in die Tierhandlung. „Was darf es heute sein, Frau Katze?“ begrüßte sie der Ladeninhaber. Das war ein gemütlicher alter Bär. „Drei Dosen Katzenfutter mit Fisch, wie immer, oder ein paar Knusperherzchen gefällig? Oder vielleicht, mit Ver­laub, eine Packung Katzenstreu?“

„Nichts von alledem“, versetzte die Katze. „Mein Kater und ich, wir sind zu einem Entschluß gekommen. Wir wollen uns ein Haustier anschaffen.“ – „Ah, ich verstehe“, sagte der Laden­inhabär. Manche Katzen halten sich Menschen, aber er wußte, diese Katzen hier hatten keine. „Und an was für eine Tierart denken Sie?“ – „Hm“, über­legte die Katze. „Der Kater meinte, ich solle das Haustier aussuchen, er sei sowieso die meiste Zeit im Büro. Und ich weiß nicht so recht, was ich will.“ Das fand der La­deninhabär bei einer Katze ganz na­tür­lich. „Na ja, einen Hund werde ich Ihnen sicher nicht ver­kaufen, Frau Katze. Einen Hamster vielleicht, oder ein paar Ka­ninchen?“

Kaninchen wollte die Katze aber nicht. Die vermehren sich zu schnell, dachte sie. Und ein Hamster? Der würde die ganze Zeit in seinem Laufrad herumtollen und Lärm machen. Und gegen Lärm war die Katze allergisch. (Jedenfalls, wenn je­mand anders ihn machte.) „Da, wo ich aufgewachsen bin, war ganz in der Nähe ein Exerzierplatz“, erklärte sie dem Laden­inhabär. „Der Lärm dort war ganz furchtbar. Und jetzt möchte ich ein Haustier, das ganz ruhig und friedlich ist. Und vor allem darf es nicht wild herumspringen.“ Die Katze war in diesem Punkt wirklich empfindlich, geradezu ein bißchen schreckhaft. Sie hatte sogar die Mäuse­jagd aufgegeben, weil die Mäuse immer so schrill fiep­sen und quietschen.

Der Ladeninhabär hatte natürlich Verständnis. „Kanarien­vögel und Springmäuse kom­men also auch nicht in Frage. Aber hier, diesen Schildkröterich kann ich Ihnen emp­fehlen. Ein ganz ruhiger Geselle. Und wenn er Ihnen nicht gefällt, kön­nen Sie ihn natürlich zurückbrin­gen.“ Der Katze gefiel dieser Vorschlag. Sie kaufte den Schild­kröterich, und natür­lich noch ihre drei Dosen Katzenfutter mit Fisch, wie immer. Nun hatte sie Ruhe, ihre ersehnte Ruhe – wenn auch nicht lange. Der Schildkröterich freundete sich nämlich mit ei­ner Spechtdame an. Die pochte ihm auf den gepanzerten Rücken, und das kitzelte ihn so angenehm. „Jetzt bin ich so vornehm wie ein Krokodil. Die haben auch Vögel, die ihnen den Rücken kraulen“, freute sich der Schildkröterich. Aber die Katze freute sich nicht und trug ihn zurück in den Laden, und die Spechtin gleich dazu. Die beiden waren darüber nicht böse, denn im Laden hatte der Schild­kröterich viele nette Freun­de.

„Ja, diese Weinbergschnecke hier könnte ich Ihnen empfeh­len“, sagte der Ladenbär. „Sie ist sehr wohlerzogen und schmatzt überhaupt nicht, wenn sie ihre Salatblätter ver­zehrt.“ Doch die Katze blieb auch mit der Schnecke nicht lan­ge zusammen. Die stammte nämlich aus Schwaben. Und sie ließ sich jede Woche aus dem Baumarkt ihres Heimatorts Mate­rial schicken, mit dem sie ihr Haus weiter ausbaute. Die ganze Woche hämmerte und bohrte sie aus Leibeskräften. Nur am Sonntag war sie ruhig, aus Pietät – oder vielleicht deshalb, weil ihr an diesem Tag regelmäßig das Baumaterial ausgegangen war und erst am Montag wieder neues angeliefert wurde.

Der Ladeninhabär ließ sich nichts anmerken, als er der Katze auch dieses Tier um­tauschen mußte. „Hier, mit dem Sieben­schläfer werden Sie ganz sicher zufrieden sein. Ein ruhigeres Tier hatte ich überhaupt noch nie im Laden, außer einmal ei­ne Haselmaus, die versehentlich ein paar Schlaftabletten ge­fressen hatte. Frau Katze, nehmen Sie den Siebenschläfer.“ Die Katze ließ sich vorrechnen, daß es nur noch drei Tage dau­ern würde, bis der Siebenschläfer volle sieben Monate schla­fen würde. Und tatsächlich kam es so.

„Ach“, freute sich die Katze, „jetzt habe ich wirklich das ruhi­ge Haustier, das ich mir immer gewünscht habe.“ – „Wird es dich nicht langweilen?“ wunderte sich der Kater. – „Bestimmt nicht!“ versicherte die Katze. Und damit hatte sie Recht. Wenn auch auf andere Art, als sie gedacht hatte. Denn der Sie­benschläfer redete im Schlaf! Was heißt, er redete. Er schrie! Im Schlaf feuerte er alle Fußballmannschaften an, die er in seiner wildbewegten Jugendzeit bewundert hatte. Und als dann der Vollmond kam und der Siebenschläfer noch mit dem Schlafwandeln anfing, nutzte die Katze das aus und ließ ihn gleich zu­rück in den Laden gehen.

Jetzt war der Ladeninhabär schon etwas nervös. Auf den Sie­ben­schläfer hatte er sich verlassen. Aber er gab nicht auf. „Hier, den Goldfisch nehmen Sie, Frau Katze. Der wird be­stimmt nicht reden, weder am Tag noch in der Nacht.“ – „Na gut“, meinte die Katze, „ich verlasse mich auf Sie.“ Doch auch den Fisch trug die Katze nach wenigen Tagen wieder zurück in den Laden. „Mein Kater kann nicht ruhig schla­fen, seit der Goldfisch im Haus ist“, erklärte sie. „Fast die ganze Nacht sitzt er vor dem Goldfischglas und schaut den Fisch hun­grig an.“ – „Das wird so sein, weil Ihr Kater aus Hamburg kommt“, überlegte der Ladeninhabär. „Mit einem Kater aus Bay­ern würde das nicht passieren. Die essen Fisch nur am Karfreitag und am Ascher­mittwoch.“ – „Na ja“, meinte die Katze, „er ist aber nun einmal aus Hamburg. Und wegen des Goldfischs werde ich doch nicht meinen Kater umtauschen. Außerdem stört mich, daß der Goldfisch mich immer so vor­wurfsvoll anschaut, wenn ich meine Do­sen Katzenfutter mit Fisch aufmache.“

Statt des Goldfischs hatte die Katze dann zwei Regenwürmer im Haus. Die waren ruhig und friedlich, solange die Sonne schien, und auch den Appetit des Katers reg­ten sie nicht an. Dann kam ein Regentag. Die Regenwürmer waren außer sich vor Freude. Den ganzen Tag tanzten sie auf dem Balkon und sangen immer dassel­be Lied aus einem verregneten Musical.

„Jetzt habe ich noch etwas für Sie, Frau Katze“, stöhnte der Ladenbär. „Wenn das nicht hilft, dann weiß ich nicht.“ Und mit diesen Worten überreichte er der Katze eine Spinne. Die Katze war sehr angetan von diesem neuen Haustier. Es fing die Fliegen, die die Katze mit ihrem Gebrumm störten, wenn sie gerade ein Buch lesen wollte. Sie erlaubte der Spinne gern, ihre Netze quer durch die ganze Woh­nung zu spannen. Aber das war wohl doch keine gute Idee gewesen. Denn von den Spinnweben mußte die Katze die ganze Zeit furchtbar niesen, und so hatte sie nach wie vor keine Ruhe. Da mußte auch die Spinne wieder zurück in den Laden.

Der Ladeninhabär hatte jetzt schon immer eine Schachtel Be­ruhigungspillen in Reich­weite. Von denen nahm er eine oder zwei, sobald er die Katze sah. „Vielleicht kaufen Sie sich ein Holzpferd?“ schlug er diesmal vor. – „Und wenn Holz­wür­mer darin sind, he?“ gab die Katze zurück. „Die den ganzen Tag knacksen und knurp­sen?“ – „Oder Ameisen, wie wäre es damit? Sie sind arbeitsam und neigen nicht zu Extra­vagan­zen.“ – „Ich habe gehört, daß die Ameisen Shanties singen, wenn sie ar­bei­ten“, meinte die Katze. „Oder ‚Wolga, Wolga‘, wenn sie nämlich aus dem Osten kommen.“ Der Ladeninha­bär griff nochmal zur Pillenschachtel. „Ein Tier habe ich noch, das in Frage kommt“, sagte er dann. Und er präsen­tier­te der Katze stolz – einen Grottenolm. „Frisch aus einer Höh­le. Probieren Sie es mit ihm, diesmal wer­den Sie nicht ent­täuscht.“

Und tatsächlich hielt es die Katze mit dem Grottenolm so lan­ge aus wie noch mit kei­nem anderen Haustier je zuvor (den Kater abgerechnet, aber der war ja kein richtiges Haustier – fand jedenfalls die Katze). Dann kam Weihnachten. Die Katze freute sich, als sie den Briefträger mit einem großen Paket auf ihr Haus zusteuern sah. Aber: „Es ist nicht für Sie“, sagte der Brief­träger, „es ist für Ihren Grottenolm.“ Und am Weih­nachts­abend war die Bescherung da. Der Grottenolm packte sein Paket aus. Es war von seiner Patentante, und sie hatte ihm einen langgehegten Wunsch erfüllt: eine Hammondorgel. Die Katze war verzweifelt, und der Kater war es diesmal auch. Die Weihnachtstage waren ihnen noch nie so lang er­schienen. Am 27. De­zem­ber standen sie schon um sechs Uhr früh vor der Tierhandlung und war­teten auf den Bären, um den Grottenolm mitsamt seiner Hammondorgel endlich ab­geben zu kön­nen.

„So, eine allerletzte Empfehlung habe ich noch für Sie“, sagte mit schwacher Stim­me der Ladeninhabär. Er schrieb eine Adresse auf einen Zettel und noch ein paar Worte dazu. „Der Professor hier. Zu dem gehen Sie hin.“ Tatsächlich tat das die Katze noch am gleichen Tag. Der Professor empfing sie auch, obwohl er sehr be­schäftigt war. Die Katze übergab den Zettel des Ladenbären. Während sie ihr Anlie­gen erläu­ter­te, betrachtete der Professor die Gegenstände in seiner Vi­trine. Er mur­melte dabei: „Ordovicium, Mesozoikum, Paläo­zän, Oligozän, Mio-, Plio- und Pleisto­zän, Tertiär, Paläo-, Meso- und Neolithikum sowie, nicht zu vergessen, Chalko­lithi­kum – auch Kupfersteinzeit genannt.“ – „Das muß ein mächtiger Zauberspruch sein.“ Die Katze war beein­druckt. „Das Tier, das ich jetzt bekom­me, wird aber wirklich ganz still sein.“ – „Sie dürfen es erst zu­hause auspacken“, erklärte der Professor. Der Ladenbär hat­te ihn wohl vorgewarnt.

So packten Katze und Kater in ihrer Wohnung das Tier ge­spannt aus. Es war ein Fossil – eine versteinerte Eidechse. Und wirklich, ein so ruhiges Haustier hatte die Katze noch nie gehabt. Bis eines Nachts einmal, als die Katze schon schlief und sich der Kater noch ein Bier holte, die Stein­eidechse mit großem Getöse auf den Boden fiel. Und als die Katze später aufs Katzenklo ging, fiel die Eidechse gleich wie­der herunter. Und von da an fiel sie immer wieder laut kra­chend herunter, wohin die Kat­zen sie auch legten. Es schien geradezu ein Spiel der Eidechse zu sein. Wahr­scheinlich fand sie es zu langweilig bei den Katzen und sehnte sich zurück zu den Fossilien, mit denen sie bei dem Professor gewohnt hatte. Der Wunsch wurde ihr erfüllt: die Katze trug sie zurück, und kurz darauf stand die Katze wieder vor dem Laden des Bären. Dort waren aber die Rolläden heruntergelassen, und an der La­dentür klebte ein Schild: „Geschlossen wegen Auswande­rung nach Australien.“ Und alle Tiere aus dem Laden hatte der Bär mitgenommen.

Nun wußte die Katze nicht mehr, was sie anfangen sollte. Nach­denklich und mit hän­gendem Kopf schlich sie nach Hause. Und hörte unterwegs ein heiseres, herzzerrei­ßendes Miauen. Ein kleines Kätzchen war dort, schwarzweiß wie das Chamäleon im Märchen des Katers. Es war verlassen und hatte Hunger. Die gutherzige Katze nahm es mit nach Hause und gab ihm frische Milch und Katzenfutter aus einer ihrer Dosen mit Fisch. Bald ging es dem Kätzchen wieder besser. Es tobte in der ganzen Woh­nung herum, mauzte vor Vergnügen und sprang über Tisch und Bänke. Auf die höch­sten Regale klet­terte es, und von den Schränken versuchte es, die Zim­merdecke zu erreichen. Sogar in die Badewanne fiel es regel­mäßig. Die Katze hatte keinen Mo­ment mehr Ruhe, und der Kater, wenn er nach Hause kam, auch nicht. Das Kätz­chen hielt sie beide ganz schön auf Trab. Die Katze dachte manch­mal an die an­deren Tiere, die sie zurückgewiesen hatte. Aber süß war das kleine, schwarz­weiße Kätzchen schon. Und ist es noch heute.

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DER RÄUBER THYMIAN FEIERT WEIHNACHTEN

aus: Marec Béla Steffens, Der Räuber Thymian

Und wieder war ein Jahr vergangen. Es war klirrend kalt, Schnee lag auf den Stra­ßen, und Weihnachten stand vor der Tür. Da traf der Räuber Thymian den Kater, der Märchen erzählt. Der Kater berichtete, viele Kinder seien heutzutage ver­unsichert. Sie wüßten nicht, ob der Weihnachtsmann die Geschenke bringe oder das Christkind. „Hm“, machte der Räuber Thymian und nahm eine Prise Schnupftabak. – „Aber in einem sind sie sich alle einig“, fuhr der Kater fort: „Wenn man am Heiligen Abend in die Kirche geht, dann darf man zuhause die Alarmanlage nicht anschalten. Sonst können die Geschenke nicht gebracht wer­den.“ – „Hmm!“ machte der Räuber Thymian erneut, mit spürbar größerem Inter­esse. – „Aber Herr Räuber! Sie werden doch an Weihnachten nicht arbeiten wol­len?“ – „Hmmm …“ machte der Räuber Thymian zum dritten Mal und ging nach­denklich weiter.

Zuhause in seinem Loft erzählte er Benedikt dem Regenwurm von der Sache. Am Ad­vents­kranz brannten schon alle vier Kerzen, und im Kamin flackerte ein gemüt­li­ches Feuer. Der Regenwurm war gar nicht begeistert: „An Weihnachten ein­zu­bre­chen, was für eine Schande!“ – „Hmmmm?“ machte der Räuber Thy­mian noch einmal. In den letzten Tagen vor Weihnachten dachte er viel darüber nach. Aber am Vormittag des Heiligen Abends stand sein Entschluß fest: „Ich werrr­de heute einbrrrechen.“ Schließlich stand im Kalender, daß erst morgen Fei­ertag war, und alle Geschäfte hatten heute auf. Der Regenwurm schüttelte mißbilli­gend den Kopf. Er kam aber doch mit, und sein ganzer Glühwürmchen-Harem auch.

Der Räuber Thymian ließ sich viel Zeit. Er aß auf dem Weihnachtsmarkt eine Brat­wurst, dann trank er einen Becher Glühwein, darauf verspeiste er einen großen Lebkuchen. Und dann, weil es so schön war, das Ganze noch einmal von vorn. Die Innenstadt wurde leerer und leerer, und noch immer machte der Räu­ber Thymian sich nicht auf den Weg ins Villenviertel, wo jetzt wohl schon die Alarm­anlagen ausgeschaltet wurden, um das Christkind oder den Weihnachts­mann nicht zu verschrecken.

„Wieso Villenvierrrtel? Wirrr bleiben doch hierrr“, erklärte der Räuber Thymian dem verdutzten Regenwurm. Und als die letzten Kunden und auch alle Ange­stell­­ten gegangen wa­ren, nahm er seine Dietriche und brach in das große Kauf­haus ein. Dort war die Alarmanlage noch an, doch die Glühwürmchen schmur­gel­ten schnell ein paar Kabel durch. Der Nachtwächter des Kaufhauses bemerk­te den Einbruch aber trotzdem. Drohend kam er angelaufen und schwenkte sei­nen Gummiknüppel. – „Aberrr ich bitte sie“, sagte der Räuber Thymian mißbilli­gend. „Herrrrrr Nacht­wächterrr! Heute ist doch Weihnachten. Und Frrriede auf Errr­den!“ Sicherheitshalber ließ er aber auch seine zwei Pistolen und die drei Messer aufblitzen. Da zog sich der Nachtwächter schmollend zurück. Thymian tröstete ihn mit einem Päckchen Schnupftabak.

„Ans Werrrk!“ rief er dann. Er hatte sich viel vorgenommen. Anstelle seiner üb­lichen Räubertasche hatte er sich einen riesigen Sack umgehängt. Mit dem zog er jetzt in den dritten Stock, in die Spielwarenabteilung. Dort saßen viele ent­täuschte Stofftiere in den Regalen. Von all den Kunden der letzten Wochen hatte kein einziger sie haben wollen! Modellbahn-Lokomotiven lagen in engen Schach­teln, statt auf großen Anlagen auf Fahrt gehen zu können. Kein Mensch mischte die Spielkarten, niemand ordnete die Puzzleteile, keiner leistete den Spielen Gesellschaft. Bei manchen Autos blinkten Tränen im Scheinwerfer.

„Das werrrden wirrr gleich haben!“ versprach der Räuber Thymian und packte al­le Spielsachen in seinen riesigen Räubersack. Er konnte ihn kaum noch auf die Schulter heben. Unterwegs mußte er oft ausspucken und verschnaufen, denn der Weg war lang. Er führte zum städtischen Kinderkrankenhaus. Dort ging der Räuber Thymian von Zimmer zu Zimmer und verteilte die Geschenke. Auch die Schwestern und die Ärzte bekamen welche. Benedikt der Re­gen­wurm half beim Vertei­len. Und alle Glühwürmchen sangen aus Leibeskräften: „Ehre sei Gott in der Höhe! Und Friede auf Erden.“

Die kranken Kinder wunderten sich über die Glühwürmchen. „Wir hatten uns die Engel immer ein bißchen größer vorgestellt“, sagten sie. Aber das war noch nicht alles. Noch viele Jahre später wunderten sich Kindergärtnerinnen und Religions­lehrer. Ob die Kinder nun das Christkind oder den Weihnachtsmann malen soll­ten, immer malten sie jemanden mit zwei Pistolen und drei Messern im Gürtel und einem wilden, roten Räuberbart im Gesicht.

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Aus: Marec Béla Steffens, Thymian in Texas

Diesmal schoß Thymian auf den Reifen. So mußte man es machen. Der Bus schlingerte ein wenig und hielt an. „Höhöhö“, machte Thymian und ging auf die vordere Tür des Busses zu. Doch Rob versuchte ihn aufzuhalten: „Verdammt! Ein Bulle!“ schrie er. „Da kommt die Polente!“ Mit quietschenden Reifen hielt ein Streifenwagen direkt neben Thymian. Was für einen lausigen Start hatte er in der Neuen Welt!

Zu seinem Glück war der Räuber Thymian nie um eine Ausrede verlegen. „Ich wollte den Busfahrrrerrr nurrr warrrnen, daß mit seinem Rrreifen etwas nicht stimmt“, wollte er vorbringen. Doch der Polizist hier war aus einem anderem Holz geschnitzt als der Stadtpolizist in Thymians Heimatort. Er fragte nicht nach Erklärungen, er schoß sofort! Kugeln pfiffen links und rechts an Thymian vorbei. Mit Müh und Not erreichte er das Unterholz.

Der Freund und Helfer handelte streng nach Dienstanweisung. „Sie haben das Recht zu schweigen!“ rief er zwischen seinen Salven. „Was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden! Sie können verlangen, daß ein Anwalt zugegen ist, während ich auf Sie schieße!“

Zu Thymians Glück war Räuber Rob auf seinem Posten. Mit seinem Sturmgewehr gab er dem Gast aus Deutschland Feuerschutz. Da ging der Polizist lieber hinter seinem Wagen in Deckung. Auch Räuber Rob war keineswegs auf den Mund gefallen: „Schützt unsere Verfassung! Sie gibt allen Bürgern das Recht, Waffen zu tragen und sie auch zu benutzen. Freie Schußbahn für freie Bürger!“

Der Polizist fühlte sich Robs Argumenten unterlegen und folgte Thymian daher nicht ins Unterholz. Stattdessen eskortierte er den Bus in die nächste Stadt. So entgingen Thymian und Rob der Verhaftung. Doch ein Tag war vertan, und keine Beute gemacht.

„Ein guter Kumpel, dieser Thymian“, berichtete Rob dem Räuberboss gegen Abend, „aber nicht gerade der Hellste.“ – „Womöglich muß er die Räuberei aufgeben und ein ehrliches Leben führen“, sinnierte der Räuberboss, „obwohl das nicht gerade einfach ist in diesem Land.“ – „Oder wir schicken ihn nach Pennsylvania“, überlegte Räuber Rob, „wo er doch so altmodisch ist. Soll er die Amish überfallen. Die fahren noch mit Pferdekutschen durch die Gegend!“

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